Für viele Menschen mag der Sommermonat August die wohlverdiente große Pause im Jahr sein. Zwei Wochen Urlaub - vielleicht sogar länger - und eine Reise in die Wärme Italiens, ausgedehnte Bergtouren oder lange Tage am Badesee verheißen Erholung und Entspannung vom stressigen Alltag. Eine Pause für Alle? Nicht für jedermann. Seit vielen Jahren bedeutet der Sommerurlaub für mich auch eine Zeit intensiver Vorbereitungen. Nicht etwa stundenlange Etüden statt Aperol und Gelato, Nein, alles steht im Zeichen meditativen Rohrbaus! Frei nach der Devise "nach dem Konzert ist vor dem Konzert" sollte ich stets sicher stellen, mit guten Rohren nach der Sommerpause starten zu können. Ist im schnöden Alltag ohnehin schon wenig Zeit für Üben UND Rohrbau, widmet sich die Auszeit im Sommer allein dem Rohrbau.
Aber wohin mit so produktiven Gedanken und dem Wunsch nach Wärme und Erholung? Natürlich in das Land, dem wir die Oboe maßgeblich verdanken, in dem "arundo donax", das Holz für unsere Oboenrohre, wächst. Auf nach Frankreich!
Jetzt ist das mit dem Rohrbau natürlich so eine Sache. Kein Instrumentalist ist von seinem eigenen handwerklichen Geschick und der Beschaffenheit des Rohrholzes so abhängig wie die Oboistin/der Oboist. Stundenlanges Hantieren mit glühenden Eisen beim Aufbrennen, wunde Finger vom Aufbinden und müde Augen vom Schaben der Rohrbahn. Und am Ende? Ein Rohr, das trotz aller Mühen nicht schwingen mag oder klanglich nur für eine Sanitätssirene taugt. Jeder Doppelrohrblatt-Spieler kennt diesen Frust. Wie beneidenswert, wenn man nur den Klavierdeckel hochklappen und sich regelmäßig die Fingernägel schneiden muss (Nichts für ungut liebe Pianisten!)! Warum tut man sich das mit den Oboenrohren an?
Die Faszination, wenn ein wirklich gutes Rohr entstanden ist, treibt uns an, lässt uns so viel Mühsal auf uns nehmen! Hat man es geschafft und ein Rohr auf die Welt gebracht mit einer weichen, flexiblen Ansprache, einem runden Ton und einem Schwingungsverhalten, dass einem vom tiefsten bis zum höchsten Ton die Resonanz seines Instruments die Nackenhaare aufstellen lässt - dann hat man es geschafft! Man vergisst die vielen auf der Strecke gebliebenen Rohre, den Ausschuss und die Zeit. Dann ist man am Ziel.
Und so findet man sich auf einem Campingplatz an der französischen Atlantikküste wieder - dort wohin es nur Ruhesuchende und Surfer verschlägt. Hier gibt es nichts als Wald, haushohe Sanddünen und den rauen Atlantik, der sich jeden Tag von einer andere Seite und in anderen Farben zeigt. Der perfekte Ort, um täglich ein Stündchen Rohrbau zu praktizieren - andere treffen sich morgens zum Yoga, der fahrende Oboist meditiert über den Härtegrad seines Holz!
Erste Übung: das halbierte und bereits innen ausgehobelte halbierte Pfahlrohr wird fassoniert und geknickt.
Zweite Übung: die geknickte Fasson wird eingeweicht und auf einen heißen Stahl-Dorn aufgebrannt.
Dritte Übung: diese "Puppe" wird nun auf die Messing-Hülse aufgesteckt und mit einem Faden aufgebunden.
Vierte Übung: Das Rohr wird nun am vorderen Ende angespitzt und aufgeschnitten. Das Doppelrohr ist nun "geschlüpft".
Fünfte Übung: eine schwarze Zunge wird zwischen die Doppelrohrhälften eingesteckt und die Bahn nach bestimmten anatomischen Regeln geschabt.
Sechste Übung: das Rohr wird immer wieder getestet und die Bahn an bestimmten Enden verändert.
Siebte Übung: der Oboist ruht.
Wie die aufmerksame Leserschaft vermuten wird, steckt in ein bisschen Oboenmusik also relativ viel Handarbeit. Und ich würde sogar behaupten, dass es wohl kaum eine Obistin/einen Oboisten geben wird, der nicht auch ein wenig Gefallen und vielleicht sogar manchmal Freude an der diffizilen Handwerkskunst findet. Anzeichen eines latenten "Stockholm-Syndroms"? Die Liebe zur Oboe bei gleichzeitigem Bewusstsein, dass man ohne den Rohrbau klanglich versandet?
In Soulac-sur-mer steht die beeindruckende Kirche Notre-Dame-de-la-fin-des-Terres. Eine Kirche aus dem 12. Jahrhundert, die im Laufe Ihrer Geschichte längere Zeit von einer Wanderdüne verschluckt war und erst in jüngerer Vergangenheit wieder von der Natur frei gegeben wurde. Seit jeher war sie Anlaufpunkt für Pilger des französischen Jakobswegs. Bei einem Besuch konnte auch ich mich eines kurzen Stoßgebets nicht erwehren, steht diese tapfere, wehrhafte Kirche doch für alles, was einem als Oboist abverlangt wird: steter Kampf mit den natürlichen Ressourcen, Hoffnung auf erneute Befreiung nach partieller oder totaler klanglicher Versandung. Und sie ist Anlaufpunkt für Pilger. Als solchen würde auch ich mich bezeichnen - als klangsuchenden Rohrbauer und als Schatzjäger auf der Suche nach dem perfekten Rohr.

Was für eine inspirierende Arbeit – sowohl der leidenschaftliche und meisterhafte Oboenrohrbau als auch die wunderbare Schilderung dieses bisher ziemlich geheimnisvollen Teils des Oboistenlebens!
Lieber Michael – herzlichen Dank für diesen hochinteressanten Beitrag, ich habe viel daraus gelernt.
Ich erinnere mich, dass vor vielen Jahren während meines Studiums in Den Haag eine sehr gute Oboistin genau wegen des ganzen Stresses und Aufwands beim Rohrbau das Instrument ganz aufgegeben hat. Damals war es für mich völlig unverständlich, ja fast wie eine Schande, dass eine so begabte Musikerin aus diesem Grund nicht mehr spielen wollte. Aber jetzt, so viele Jahre später, verstehe ich diese Entscheidung sehr viel besser – weil du, Michael, den Mut und die Mühe aufgebracht hast, diesen ganzen Prozess so ausführlich und zugleich einfühlsam zu beschreiben. Dafür ein großes Dankeschön!
Es wäre für uns alle eine Bereicherung, mehr von dieser „Arbeit hinter den Kulissen“ der verschiedenen Instrumente zu erfahren. Ich möchte auf jeden Fall, dass jedes Mitglied des Greifenberger Barockorchesters diesen Blog liest. Vielleicht könnten wir den Beitrag sogar auf unserer Webseite veröffentlichen? Artikel über die Mitglieder und ihre Instrumente wären meiner Meinung nach eine große Bereicherung unserer Seite!
Wie du die ganze Geschichte am Ende des Blogs im Rahmen von Notre-Dame-de-la-fin-des-Terres schilderst, trägt außerdem dazu bei, dass sie in inspirierender und tief berührender Weise in Erinnerung bleibt – nicht als bloßer Sachbericht, sondern als Ausdruck einer ständigen menschlichen Herausforderung und Leistung im Einklang mit der Natur, um Schönheit und Liebe freizusetzen.
Herzlichen Dank dafür!
Sehr interessant, lieber Michael. Danke auch für die Fotos. Wie lange hält denn dann so eine Kreation? Ich glaube da ist eine meditative Grundeinstellung essentiell. Freue mich schon auf die nächste Probe❣️