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„Wir kämpfen“ - eine fragwürdige Denkweise.

Autorenbild: Penelope SpencerPenelope Spencer

Letzte Woche habe ich ein wunderschönes Konzert mit Monteverdi-Madrigalen besucht, veranstaltet vom wunderbaren semiprofessionellen Chor Versum Vocale

und vom Amateur-Barockorchester Greifenberger Barock. Das Konzert fand in einer gemütlichen kleinen bayerischen Kirche statt, in der Nähe meines Wohnorts.



Als ich ankam, strömten die Menschen durch die Tür – viele junge Leute, sogar Kinder, und auch einige Ältere. Alle waren fröhlich, munter und lachten, und die Kirche war warm und sehr weihnachtlich. Sie erstrahlte in goldenem Licht und war liebevoll mit den traditionellen bayerischen Weihnachtssternen und Lichtern geschmückt.


Draußen war es dunkel, sehr kalt, und das Dorf wirkte eher trist. Doch sobald ich durch die Tür trat, fühlte ich, wie meine Stimmung sich hob – ich betrat eine andere Welt: warm, fröhlich, harmonisch und inspirierend!


Eine rätselhafte Unterhaltung


Ich war so glücklich, dieses kleine Juwel einer Kirche direkt vor meiner Haustür entdeckt zu haben – warum war ich vorher noch nie hier gewesen? Die Atmosphäre war so einladend und offen, dass ich spontan mit einem Mann an der Tür ins Gespräch kam. Es stellte sich heraus, dass er der Kirchenorganist war, der dort wohl seit 30 Jahren arbeitete.


Er war ein eher ernst wirkender Mann, etwa 65 Jahre alt, und trug trotz der überhitzten Kirche einen robusten Regenmantel. Als ich ihm ein Handout von Barockconnections anbot, lehnte er es ab mit den Worten: „So etwas möchte ich nicht mit mir herumschleppen.“ Er nahm sich keine Sekunde, es anzusehen oder zu fragen, worum es dabei ging.


Ich war ziemlich überrascht. Jeder andere, der durch die Tür kam, hatte das Handout dankbar angenommen – viele setzten sich sofort hin und begannen zu lesen. Das erschien mir nur logisch. Wer kommt zu einem Konzert mit Monteverdi-Madrigalen? Vermutlich Familie und Freunde, mit denen die Künstler ihre Leidenschaft für die Alte Musik geteilt haben.


Überrascht von der Einstellung des Kirchenmusikers, war ich neugierig, mehr herauszufinden, und fragte ihn nach seiner Arbeit und der Kirche. „Wir kämpfen“, sagte er mit einem plötzlich verhärteten Gesichtsausdruck. „Seit Jahren kommen die Leute nicht mehr in die Kirche. Hier ist es nicht wie in München – wer ein Konzert besuchen möchte, fährt natürlich nach München. Hier haben wir keine Interessierten, keine Chance. Vor allem junge Leute kommen niemals in die Kirche – auch nicht zu Konzerten.“


Während er diese Worte sprach, gingen gerade fünf oder sechs lächelnde junge Leute an uns vorbei, auf der Suche nach freien Plätzen in den Bänken – die Kirche war schon fast voll. „Ja, wir kämpfen“, sagte er, mit einem erschöpften Gesichtsausdruck.


War dieses Konzert ein einmaliges Ereignis? Sicherlich, und wenn der Mann regelmäßig Konzerte wie dieses veranstaltete, konnte er doch nicht behaupten, dass niemand in die Kirche kommt. Ich hatte keine Zeit mehr, nachzufragen, weil die Leute anfingen zu klatschen – die Musiker:innen traten bereits auf die Bühne…


Was bedeutet „Kämpfen“?


In den sieben Jahren seit meinem Umzug nach Deutschland habe ich oft gehört, wie Menschen den Ausdruck „kämpfen“ verwendeten, um Musiker:innen oder Ensembles in der Alte-Musik-Community in München zu beschreiben. „Er kämpft seit Jahren für sein Orchester“ oder „Das Ensemble/die Konzertreihe kämpft ums Überleben.“ Diese genauen Worte habe ich schon viele Male mit großem Eifer ausgesprochen gehört, und mir ist aufgefallen, dass  sie oft mit einer gewissen Härte und Rigorosität im Ton vorgetragen werden. In diesen Momenten scheint die Stimmung für einen Augenblick zu erkalten, als ob die Person sich bereits das Schlachtfeld vorstellen würde.


Und das wundert einen nicht! Das Wort „kämpfen“ impliziert eine Positionierung gegen jemanden oder etwas. Um zu kämpfen, braucht man einen Feind, und man muss sich nicht nur vor diesem Feind schützen, sondern ihn auch bekämpfen und eliminieren. Man braucht ein undurchdringliches Schild, darf keine Schwäche zeigen, muss Verbündete oder Söldner haben, gute Waffen und eine clevere, gnadenlose Strategie, die man unbedingt geheim hält. „Kämpfen“ bedeutet letztlich, dass etwas zerstört wird.


Sind Musiker:innen tatsächlich Kämpfer?


Dieser Ausdruck „wir kämpfen“ taucht so oft in Gesprächen auf, dass ich mich frage, ob er wirklich beschreibt, wie meine Musiker:innenkollegen sich fühlen, oder ob es vielleicht genau andersherum ist – hat es sich eben durch diesen Ausdruck zu einer ungesunden kriegsähnlichen Situation unter professionellen Musiker:innenn entwickelt?


Was ich aus meiner eigenen Erfahrung als Ausländerin (seit 7 Jahren in Deutschland) sagen kann, ist dass eine alarmierende Anzahl Kollegen tatsächlich misstrauisch gegenüber neuen Ideen sind.  Sie kämpfen lieber weiter so wie sie es immer getan haben.


Ist “kämpfen” unvermeidlich?


Aber ist diese Denkweise wirklich konstruktiv für Musiker:innen – hilft „Kämpfen“ tatsächlich?


Vor allem seit Corona scheint die heutige Welt die Menschen dazu zu ermutigen, Mauern zu bauen, Barrieren zu errichten, sich von anderen abzukapseln und Angst voreinander zu haben. Vielleicht ist es einfach menschlich, zu kämpfen und zu zerstören, und sich nur um das eigene Überleben zu kümmern?


Ich glaube anders


Ich glaube, dass Musik das Gegenteil von „Kämpfen“ ist: Musik ist „Kooperation“. Musik ist eine der wenigen Oasen in dieser Welt, in der Menschen vor dem Wahnsinn des Krieges, vor dem „Kämpfen“, Zuflucht finden können - und müssen. Zusammen.


Die Torte ist eigentlich unendlich groß.


Meiner Meinung nach gibt es in der Alte-Musik-Community eine weit verbreitete Haltung, die dem Wachstum des Publikums für Alte Musik im Weg steht. Ich habe beobachtet, dass viele Musiker:innen so handeln, als sei es ein zero-sum game. Das bedeutet: wenn ich gewinnen will, muss mein Konkurrent verlieren. Wenn mein Konkurrent ein großes Stück von der Torte nimmt, wird mein eigener Anteil kleiner. Hier ist die Wikipedia-Definition dieses Konzepts:


Zero-sum game is a mathematical representation in game theory and economic theory of a situation that involves two competing entities, where the result is an advantage for one side and an equivalent loss for the other.  In other words, player one's gain is equivalent to player two's loss, with the result that the net improvement in benefit of the game is zero.

Ich glaube jedoch, dass es für uns Musiker:innen kein Zero-sum-game ist. Tatsächlich gilt: Wenn wir alle zusammenarbeiten, um die Torte (d.h. das Publikum, das Awareness für Alte-Musik) zu vergrößern, werden wir letztendlich alle mehr davon bekommen. Es gibt unendlich viele Menschen da draußen – wir müssen sie nur erreichen!


Wir brauchen tatsächlich mehr Veranstaltungen, Konzerte und Awareness, denn das steigert die Nachfrage. Wenn wir zusammenhalten und uns gegenseitig dabei unterstützen, wird jeder davon profitieren. Die Torte (also die Möglichkeiten - Konzerten, Finanzierung) wird wachsen, wenn die Community und die Nachfrage wächst.


Anstatt zu denken, dass es nur eine feste Anzahl von Konzertmöglichkeiten oder finanziellen Vorteilen gibt, schlage ich vor, dass wir anders denken: Es gibt tatsächlich unendlich viele Möglichkeiten, die darauf warten, verwirklicht zu werden – aber wir dafür müssen wir zusammenarbeiten, um das Ganze schneller voranzutreiben.


Um zu überleben, sollten wir das Gegenteil von „Kämpfen“ tun: Kooperieren. Vor allem in der Alte-Musik-Community in München, die klein ist und momentan leider tatsächlich noch kämpft. Hier in München brauchen wir tatsächlich eine größere Torte, damit jeder genug zu tun hat und genug verdient.


Barockconnections, das Informationsportal für Alte Musik in München und Umgebung, hat das Potenzial, die Torte zu vergrößern: Mit BC machen wir es dem Publikum leichter, sich über Alte Musik zu informieren – durch einen Veranstaltungskalender und ein Forum. Wir vernetzen die Community und bauen das Publikum auf. Auf diese Weise vergrößern wir die Torte. Für alle – für Künstler und für das Publikum. Genau deshalb machen wir es. Gemeinsam.


Sich für den Newsletter anzumelden und den Veranstaltungskalender zu nutzen, sind zwei Möglichkeiten, wie Du nicht nur diese neue Initiative unterstützen kannst, sondern auch mehr über großartige Konzerte und die Welt der Alten Musik in und um München erfahren kannst! Oder teile gleich diesen Link mit Gleichgesinnten.


Ein Gedankenexperiment:


Wie würde die Alte-MusikCommunity in München heute aussehen, wenn ich in den letzten sieben Jahren seit meinem Umzug nach München jedes Mal den Ausdruck „wir arbeiten zusammen“ gehört hätte, statt des Ausdrucks „wir kämpfen“?


Musik ist der Ursprung der Kommunikation, des Zusammenhalts und der Zusammenarbeit und überschreitet Grenzen aller Art. Wie Oliver Sacks in seinem Buch „Musikophilia“ hervorhebt, reagiert das menschliche Gehirn immer noch auf Musik, selbst wenn alles andere versagt – Musik bleibt und berührt die menschliche Seele, sogar wenn das Gehirn durch Alzheimers oder andere Hirnschäden angegriffen wurde. Das liegt daran, dass Musik im urtümlichsten Teil des Gehirns verankert ist, der sich noch vor der Entwicklung der Sprache gebildet hat – die frühesten Menschen mussten zusammenarbeiten, um zu überleben, und dafür nutzten sie eine primitive Art von Musik und Rhythmus.


Musik erfordert und fördert die besten Eigenschaften der menschlichen Spezies.


Diese Eigenschaften haben den Menschen geholfen, die Eiszeiten zu überstehen, in denen viele andere Arten ausstarben:


  • Kommunikation – Zuhören und Reagieren

  • Offenheit – Kreativität und Lernen

  • Kooperation – Zusammenarbeiten und gemeinsam Schaffen


Und das Ergebnis ist:


Opportunity

Wachstum

Schönheit

Kreativität


Diese Eigenschaften habe ich in Hülle und Fülle bei dem wunderbaren Konzert  letzte Woche gespürt – die Zusammenarbeit zwischen dem Amateurchor und dem Orchester. Die Musiker:innen haben die Welt wirklich zu einem besseren Ort gemacht. Der Kirchenmusiker schien für einen Moment blind für das, was tatsächlich um ihn herum geschah – vielleicht eine Nebenwirkung der Krankheit des musikalischen Krieges und jahrelangen „Kämpfens“. Die Antwort auf sein Problem lag direkt vor ihm, doch er konnte sie nicht sehen.


Natürlich ist die finanzielle und musikalische Realität der Arbeit mit Profis drastisch anders als die mit Amateuren, die es sich leisten können, für ihr eigenes Vergnügen zu musizieren (wenn auch durch harte Arbeit), aber nicht die Zeit oder Ausbildung hatten, ihre Darbietung vollständig zu perfektionieren. Aber es gibt definitiv einen Platz und einen absoluten Bedarf für beides in dieser Welt.


Können Träume wahr werden?


Ich bin mir sicher, dass ich nicht die Einzige bin, die jemals versucht hat, die Fahne des Friedens, der Liebe und der Zusammenarbeit in dieser vom “Kämpfen” geprägten Arena der Münchener Alten-MusikCommunity zu erheben.


Für mich jedoch gibt es nur einen Weg nach vorne, und das ist, mir selbst treu zu bleiben und daran zu glauben, woran ich glaube und wovon ich träume  –  an die Menschen und an die Musik. Zusammen ist diese Kombination unschlagbar. Menschen können das Unvorstellbare, das Wunderbarste und das Magischste erreichen…


„Zusammen“



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